Mineirazo 2014

Sambamärchen. Ein Rückblick auf die vielleicht surrealsten 90 Minuten der Fußballhistorie.

Jegliche Versuche, dieses gestrige Spiel in angemessenen Worten zu verpacken, führen ins Nichts. Dutzende Male habe ich mich während des Spiels gekniffen. Dutzende Male habe ich den Kopf geschüttelt. Und als ich vorhin aufgewacht bin, dachte ich, es wäre alles nur ein wunderschöner Traum gewesen. War's nicht. Das Ergebnis des gestrigen Halbfinals ist Realität.

Sieben zu eins.

Die DFB-Elf führt zur Halbzeit 5:0 gegen den Gastgeber Brasilien. So eine Gala...
Die Fußballwelt erlebte gestern Abend eines ihrer größten Erdbeben, wenn nicht sogar das größte der Geschichte. Die Dimensionen dieses Knalls sind historisch, allein schon wenn man von den Reaktionen liest. In Brasilien wird dieses Halbfinale auf einer Stufe mit dem Maracanazo 1950 gestellt, dem bisher dunkelsten Kapitel der brasilianischen Fußballgeschichte. Und hier in Deutschland sprechen manche vom größten Spiel seit dem »Wunder von Bern«. Normalerweise eine gnadenlos Übertreibung, doch widersprechen mag man dem Ganzen nicht. Wenn am Sonntag jetzt der Titel eingefahren wird, dann ist es das definitiv.

Wo warst du in diesen 18 Minuten, als Deutschland 5 Tore gegen den Gastgeber schoss?, wird man sich noch in Jahren, Jahrzehnten fragen. Ich war bei Bekannten, wo wir bei jedem deutschen Tor einen kleinen Schnaps trinken wollten – und dann irgendwann nicht mehr hinterherkamen. Als wäre es ein Suffspiel. Wahnsinn.

Es gab so viele unfassbare Momente gestern Abend in Belo Horzonte, doch die besten Bilder gab es am Ende: Beim siebten Tor durch Schürrle standen alle im Stadion, auch die Brasilianer. Sie haben allen Grund, von ihrer eigenen Mannschaft enttäuscht zu sein, doch sie vergaßen nicht, dem besseren Team Respekt zu zollen. Genauso lief es umgekehrt: Nach Schlusspfiff setzte kein deutscher Spieler zu überschwänglichen Jubelläufen an und spendete den gegnerischen Akteuren Trost, wohlwissend dass man hier eine ganze Nation in tiefe Trauer gestürzt hat. Nicht jede Nationalmannschaft hat so viel Größe, im Moment des Erfolgs dem Besiegten derart viel Mitgefühl entgegenzubringen.

Wisst ihr, wir haben schon so viele gigantische Spiele gesehen, die allesamt ein bisschen surreal waren. Ich meine, 4-1 gegen England, 4-0 gegen Argentinien, dann die Auftritte der Bayern und Dortmunder in der Champions-League-Saison 2013 … doch dieser 8. Juli 2014 war noch viel größer.
Es wird immer der Tag bleiben, an dem die Nationalmannschaft Brasiliens nach einem frühen 0-2 gegen die Deutschen komplett auseinanderbrach. Vor eigenem Publikum, in einem WM-Halbfinale. Es wird immer der Tag bleiben, an dem Miroslav Klose seinen WM-Torrekord aufstellte. Ein Tag, an dem Legenden geboren wurden. Die Sternstunde des Toni Kroos' oder das erschlagende Selbstbewusstsein eines Sami Khedira. Eigentlich hat hier fast jeder 'ne spezielle Ehrung verdient. Doch damit warte ich lieber noch ab.

Denn man darf nicht vergessen, dass es lediglich der Tag ist, an dem Deutschland das WM-Halbfinale 2014 gewonnen hat. Historisch ist es erst, wenn wir am Sonntag noch den letzten Schritt machen und – wer hätte gedacht, dass wir das wirklich sagen können – Weltmeister werden. Weltmeister! Dann, liebe Leute, erst dann war dieser gestrige Glanzabend auch Gold wert.  

WM-Tagebuch #13 – Wer zuerst trifft .

Sambamärchen. Ein (eeeeeeetwas verspäteter) Rückblick aufs Viertelfinale.

Nanu? Keine Auswertung des Frankreichs-Spiels? Kein Rückblick auf die ganzen anderen Viertelfinals? Ja, sorry, die Erklärung ist recht einfach: Zeitprobleme.
Dafür soll dieser Ausblick natürlich besonders umfangreich sein.

Wir befinden uns in der entscheidenden Phase der WM. Vier Spiele sind es noch, dann steht fest, aus welchem Land die Weltmeister 2014 kommen. In teilweise höchst dramatischen Viertelfinals setzten sich Deutschland, Brasilien, Holland und Argentinien durch.

Unser Sieg gegen Frankreich war erneut kein Ausbruch spielerischer Freude, aber auch keine neuerliche Enttäuschung. Das frühe Tor von Mats Hummels beruhigte uns alle, und stimmte die Hobby-Bundestrainer milde. Schließlich kam Jogi endlich unserem Wunsch nach, Philipp Lahm wieder nach hinten rechts zu setzen. ENDLICH! Der schnell Boateng rückte dafür in die Innenverteidigung. Zusammen mit bereits erwähnten Mats Hummels bildete er eine echte Mauer. Das war grandios! Das war stark! Und in den paar Momenten, wo es dann doch mal gefährlich wurde, rettete uns einmal mehr Manuel Neuer. Man hätte noch das 2-0 machen können, vielleicht sogar müssen, aber who cares? Der Sieg war verdient.

Brasilien startete sein Viertelfinale gegen Kolumbien furios, ging ebenfalls früh in Führung, was vielleicht zu der ein oder anderen übermotivierten Aktion führte. Es entwickelte sich ein rohes, teilweise überhartes Spiel. Sanktionen sprach der Schiri aber seltener aus. So konnte das Unglück seinen Lauf nehmen … Kurz vor Spielende sprang der Kolumbianer Zuniga, ebenfalls komplett übermotiviert, in den Rücken von Neymar. Eine Aktion, die in diesem Spiel nicht zum ersten Mal auftrat, weil es stets ungeahndet blieb. Bis dahin ging es ja auch immer gut aus. Nur in jener 87. Minute nicht. Neymar blieb liegen, mit schmerzverzerrten Gesicht und musste vom Feld getragen werden. Passiert halt, mag man sich als normaler TV-Zuschauer denken, zumal man von der Ansicht der vorigen Fouls schon ein Stück weit abgestumpft war. Von der ganzen Dramatik dieses Fouls erfuhr die Welt erst nach dem Spiel. Ein Lendenwirbel ist gebrochen, und man muss kein Arzt sein, um zu wissen, dass das ganz böse hätte ausgehen können. In den ersten Momenten soll Neymar sogar darüber geklagt haben, eine Beine nicht mehr zu spüren, was sich später nur als Störung herausstellen sollte. Seine Tränen, die die Fußball-Welt am Fernseh-Gerät sah, waren nicht nur Tränen des Schmerzes. Es waren Tränen der Angst, vielleicht nie wieder Fußball spielen, geschweige denn gehen zu können. Tatsächlich hätte ein Schlag zwei, drei Zentimeter höher zu dieser Katastrophe geführt … Als ich das zum ersten Mal gehört habe, musste ich schlucken. Neymar hab ich bei dieser WM am meisten bewundert.
Bewundernswert war nach dem Abpfiff aber die Herzlichkeit auf dem Platz, wo sie sich vorher noch massiv bekämpft hatten. Das schönste Bild dieser WM bisher lieferten David Luiz und James Rodriguez: Der Brasilianer tröstete die Neuentdeckung des Turniers minutenlang, und zollte ihn mit einer Geste ganz großen Respekt.

Was war sonst noch?

Argentinien gewann sein Spiel relativ unspektakulär mit 1-0. Auch hier war das Erfolgsgeheimnis ein frühes Tor.

Weil den Holländern selbiges nicht gelang, mussten sie gegen aufopferngsvolle Costaricaner ins Elfmeterschießen. Wer hätte das denn bitte gedacht? Oh man. Dort zeigte dann aber Louis van Gaal seine Qualitäten als genialer Stratege. Er wechselte mal eben einen neuen Torhüter namens Tim Krul ein, der die Ticos völlig irritierte und mit zwei gehaltenen Bällen zum Matchwinner avancierte. Großartig fand ich, dass Costa Rica sich nicht über die Mätzchen von Tim Krul beschwerten, und auch nach dem Spiel diese Spielchen als normales Mittel verteidigten. Daumen hoch! Und das letzte Schleifchen am Auftritt der Mittelamerikaner, die sich in Brasilien zu echten Legenden gemacht haben. Respekt!

Viertelfinal-Ausblick

Sambamärchen. Ein Ausblick aufs Viertelfinale.

Viertelfinale. Jetzt geht’s ans Eingemachte! Wir sind jetzt in der Phase, wo ein Ausscheiden keine Katastrophe mehr wäre, aber eben auch weit entfernt von einem guten Turnier. Schafft es Deutschland heute zum vierten Mal in Folge in ein WM-Halbinale? Und was macht der Rest so?

Frankreich gegen Deutschland

Bild in Originalgröße anzeigenBild in Originalgröße anzeigenEs gibt doch nichts geileres als einen echten Fußballklassiker im altehrwürdigen Maracana, dem wir daheim in Deutschland bei Sonnenschein und Dreißig Grad beiwohnen dürfen. DAS ist doch endlich die WM, die wir uns erträumt haben. Man könnte sagen: Jetzt geht das Turnier erst so richtig los! Vorraussetzung dafür ist natürlich ein deutscher Sieg … und das wird alles andere als einfach. Die Franzosen waren bislang sehr stark, haben Honduras und die Schweiz problemlos geschlagen, gegen Ecuador durchgeatmet und im Achtelfinale die Nigerianer in der Schlussviertelstunde klug niedergerungen. Stürmer Karim Benzema ist in sensationeller Form und Neuentdeckungen wie Antoine Griezmann haben den Ausfall von Franck Ribery bisher völlig kompensiert. Frankreich ist wieder wer! Für sie ist dieser Viertelfinal-Einzug in der Tat schon ein Erfolg, man erinnere nur an das Desaster von Südafrika.
Wir hingegen konnten noch nicht so richtig überzeugen, doch so lange das Ergebnis stimmt, ist alles okay. Deutschland ist eine Turniermannschaft, die sich in solchen Spielen traditionell steigern kann. Das wird auch nötig sein. Über unsere Taktik ist in den letzten Tagen so viel diskutiert worden, dass ich's langsam echt satt habe. Fakt ist: Frankreich spielt offener als Algerien und – so paradox das auch klingt – gegen die Equipe Tricolore werden wir uns leichter tun. Ich glaube an uns, ich glaube an den Titel – ich glaube an ein 2-0.

Brasilien gegen Kolumbien

Bild in Originalgröße anzeigenBild in Originalgröße anzeigenIn Fortaleza trifft der Gastgeber auf die bisher spielstärkste Mannschaft des Turniers, und das verspricht unendliche Spannung. Die Selecao stand schon gegen Chile kurz vorm K.O., konnte sich aber irgendwie noch retten. Das Glück dürfte allmählich aufgebraucht sein, und wenn es gegen Kolumbianer nicht besser wird, dann ist heute wirklich Schluss. So viel ist schon mal sicher. Es ist nicht nur ein Treffen zweier Südamerikaner, sondern auch das Duell zweier Shootingstars dieser WM. Auf Neymar war diese Rolle ja von Anfang an zugeschnitten, James Rodriguez hingegen hat sich erst in Brasilien so richtig ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Er ist der bisher beste Torschütze. Doch wer gewinnt am Ende? Ein Vorteil der Brasilianer könnte, neben den fanatischen Fans im Rücken, auch die Erfahrung sein. Kolumbien stand immerhin noch nie zuvor unter den letzten Acht. Hinzu kommt, dass der Sieg gegen Chile wahnsinnig viel Anspannung gelöst hat und die Spieler das große Desaster abwenden konnten. Ich würde es Kolumbien gönnen, doch ich sehe Braslien im Halbfinale.

Niederlande gegen Costa Rica

Bild in Originalgröße anzeigenBild in Originalgröße anzeigenEs ist grad mal drei Wochen her, da behauptete ich glatt: Wenn Costa Rica heute gewinnt, dann ist das eine riesige Sensation.
Dreieinhalb riesige Sensationen später stehen die Costaricaner im Viertelfinale. Was sind dreieinhalb Sensationen? Ein Wunder? Ja, Wunder passt gut. Der Wunder-Viertelfinalist trifft auf den Topfavoriten Holland. Selten gab es in einem Spiel unter den letzten Acht so eindeutige Vorraussetzungen. Ich weiß schon gar nicht mehr, was ich jetzt sagen soll: Wenn Costa Rica heute gewinnt, dann ist das … ja, was ist das dann? Wie kann man Wunder noch übertrumpfen? Nix. Darum wäre es wesentlich einfacher, wenn Oranje die Mittelamerikaner aus dem Turnier schmeißt, bevor hier noch die Erde anfängt, sich in die andere Richtung umzudrehen …
Nee, mal ernsthaft: 120 Minuten gegen Griechenland vs. Arjen Robben in Topform – klare Sache. Und: Costa Rica hat mit Keylor Navas zwar einen fantastischen Torwart – doch davon haben sich die Niederländer auch schon gegen Mexiko nicht aufhalten lassen. Ich schwöre: Wenn Costa Rica heute gewinnt, dann hole ich mir ein Trikot von Bryan Ruiz. Wirklich jetzt.

Argentinien gegen Belgien

Bild in Originalgröße anzeigenBild in Originalgröße anzeigenDiese Partie wird ausgeglichen, komme was wolle. Die Argentinier spielen bisher kein berauschendes Turnier, brauchten gegen starke Schweizer die Verlängerung, Lionel Messi, ein spätes Tor und den Pfosten, um nicht vorzeitig heim nach Buenos Aires zu fliegen. Wenn nicht langsam endlich mal eine Leistungsexplosion kommt, wird Belgien sie schlagen – denn die haben ihre Form pünktlich zur K.O.-Runde gefunden. Der nüchternen Gruppenphase folgte gegen die USA ein grandioser Auftritt, auch wenn sie ebenfalls den Umweg über die Verlängerung gehen mussten. Die Geheimfavoriten strotzen also vor Selbstbewusstsein, haben schon jetzt eine Menge erreicht und sind hungrig auf mehr: Ein Halbfinale gegen den nördlichen Nachbarn Niederlande, das wär's doch! Die Gauchos werden aber etwas dagegen haben – scheiterte man doch bei den letzten beiden Weltmeisterschaften jeweils im Viertelfinale, jeweils an Deutschland. Grade im Land des Erzrivalen wollen sie endlich mehr. Aber hat man das nicht schon vorm Spiel gegen die Eidgenossen gesagt? Ich hoffe auf die »roten Teufel«!

WM-Tagebuch #12 – Gänsehautentzündungen

Sambamärchen. In den Achtelfinals setzen sich alle Gruppensieger durch – doch bei kaum einem läuft es wirklich rund.

Was waren denn das bitte für megaspannende Spiele?! Bereits im Achtelfinale bekommt die Fußballwelt die dramatischsten Seiten zu sehen, die solche KO-Spielen mit sich bringen können: Späte Tore, Geistesblitze, fünf mal Verlängerung und davon ging's zwei mal ins Elfmeterschießen. Boah!

Pinilla an die Latte ... Brasilien kurz vorm K.O.
Die Runde der letzten 16 begann ja schon mit einem Paukenschlag: Brasiliens Auftritt gegen Chile wurde ein intensives, emotionales und am Ende hochexplosives Duell. Der Gastgeber schrammte haarscharf an der nationalen Katastrophe vorbei, weil die Chilenen ebenbürtig waren. Mindestens. Doch der Gott im Himmel schien echt alles daran zu setzen, Brasilien nicht schon so früh aus ihrem Turnier zu werfen. Anders kann man es nicht erklären, dass der letzte Schuss von Mauricio Pinilla in der 120. Minute nur den Weg an die Latte fand – und nicht ins Tor. Oder als der letzte chilenische Schütze im Elfmeterschießen, Jara, seinen Schuss punktgenau an den Innenpfosten setzte, der dem Ball genau den Drall gab, sich um den Pfosten auf der anderen Seite zu drehen.
Chile ist raus. Und damit geht der wohl stärkste aller Geheimfavoriten. Die Gastgeber hingegen wissen wohl selber nicht, woher sie ihr ganzes Glück eigentlich nehmen …
Da muss ich doch glatt mal Mehmet Scholl zitieren: Gänsehautentzündung!

Nächster Gegner wird Kolumbien sein, das bisher wirklich das einzige Team dieser Weltmeisterschaft ist, das in absolut jedem Spiel überzeugen konnte. Und sie haben die Neuentdeckung der WM in ihren Reihen: James Rodriguez. Spätestens mit seinem überragenden 1-0 Treffer gegen Uruguay schoss er sich ins Gedächtnis der Fans, und weil es so schön war, schnürte er gleich einen Doppelpack. Die Urus, auch wenn ohne Luis Suarez, muss man erstmal derart souverän vom Platz fegen. Mit den Kolumbianern gibt es also tatsächlich noch einen Geheimfavoriten, der diesen Titel komplett zurecht verliehen bekommen hat …

Die unschöne Interpretation des fliegenden Holländers ...
Alles andere als ein Geheimfavorit sind die Holländer, die sich gegen Mexiko aber schwerer taten als erwartet. In einer wahren Hitzeschlacht in Fortaleza gingen die Lateinamerikaner kurz nach der Halbzeit in Führung, und plötzlich schienen sich all die Klischees zu bestätigen: Holland spielt 'ne überragende Vorrunde und fliegt dann früh raus. Es hätte ja auch so schön zu dieser WM gepasst, wenn schon wieder ein großes europäisches Team viel zu früh rausgeflogen wäre. Hätte hätte Fahrradkette, die Welt könnte heute viel anders aussehen, wenn die Mexikaner nach der Führung weiter Fußball gespielt hätten. Taten sie aber nicht. Stattdessen kam die Oranje zurück, überwand nach 87 Minuten den erneut fantastischen Keeper Ochoa, um das Spiel dann komplett zu drehen. Den Elfmeter in letzter Minute – Robben war mächtig abgehoben, noch so ein Klischee … - verwandelte der von Van Gaal so oft verschmähte Klaas-Jan-Huntelaar. 2-1. Schluss, Aus, Ende. Die Mexikaner scheiterten zum sechsten (!) Mal in Folge an der Hürde Achtelfinale. Da hilft auch kein Lamentieren vom supersympathischen mexikanischen Trainer Miguel Herrera – der Strafstoß war berechtigt.

Costa Rica sorgte dann am Abend für die nächste Sensation, wobei der Viertelfinaleinzug ihres Gegners Griechenland mit dem gleichen Substantiv belegt werden hätte können. Krass ist aber in der Tat, wie dieser Sieg zustande kam. Der Führung von Bryan Ruiz folgte bald eine gelb-rote Karte. Unterzahl. Fast 'ne halbe Stunde! Die Ticos kämpften mit viel Herz, doch es half nichts: Sokratis erzielte in der letzten Minute den Ausgleich. Verlängerung. Viele Team wären jetzt zusammengefallen, vor allem mit nur zehn Mann – nicht so die Costaricaner. Mit viel Glück und einen überragenden Torwart namens Keylor Navas retteten sie sich ins Elfmeterschießen, wo die eigentlich völlig kaputten Spieler ihre Strafstöße allesamt verwandelten. Weil dort der besagte Navas auch noch einen griechischen Schuss grandios parieren konnte, ist Costa Rica jetzt tatsächlich unter den besten Acht.
Nächster Gegner: Holland. Wenn uns diese WM eins gezeigt hat, dann dass definitiv nichts unmöglich ist ...

Im Spiel Frankreich gegen Nigeria wurde unser möglicher Viertelfinalgegner gesucht und, klar, war Les Bleus der Favorit. Doch das scheint in diesen Tagen eher zu hemmen, als das es beflügeln kann. Zumindest war das Spiel der Franzosen weitesgehend ideenlos, während Nigeria sehr stark agierte. Erst in der Schlussphase entschied sich dieses ausgeglichene Spiel, weil Paul Pogba endlich zeigte, warum er als das größte Talent unseres Nachbarlandes gilt. Angst muss man vor dieser Mannschaft allerdings nicht haben – Ähnliches wird man zwischen der Bretagne und der Cote d'Azure aber auch über uns Deutsche sagen, siehe Algerien …

WM 2014 Achtelfinale Argentinien - Schweiz Tor
Im Netz: Di Marias 1:0 lässt Schweiz verzweifeln
Der letzte Tag der Achtelfinals wurde gleichzeitig zum Tag der Verlängerungen. Zunächst schleppten sich die Argentinier gegen den Außenseiter Schweiz durch 90 zähe Minuten, in denen die Eidgenossen sogar die besseren Chancen hatten. Generell machten unsere Nachbarn ein großartiges Spiel, perfekt eingestellt von Ottmar Hitzfeld fehlte lediglich das Tor zur ganz, ganz großen Überraschung. Es sollte nicht fallen. Es ist so bitter, dass den Argentiniern dann genau ein Fehler reichte, um das Spiel an sich zureißen. In der 118. Minute verlor Juves Lichtsteiner, bis dahin nahezu großartig, einen Ball im Mittelfeld, den Lionel Messi dann nach starkem Sprint zu Angel di Maria durchbrachte, der wiederum nur einschieben musste. Doch das war es noch nicht: Quasi im Gegenzug kamen die Schweizer in Form von Dzemaili aus drei Metern zu einem Kopfball, der jedoch nur an den Pfosten prallte, und vom Knie des völlig überraschten Schützen knapp vorbeirollte. Wie schon Brasilien hilft den Argentiniern das Aluminium, seit neuestem auch bekannt der »Pfosten Gottes«. Ottmar Hitzfelds Karriere geht damit spektakulär zu Ende. Schade für diese sympathischen Schweizer, die Überraschung lag in der Luft!

Schafft es die behäbige Albiceleste, sich trotzdem ins Halbfinale zu mogeln? Belgien wird etwas dagegen haben, und ihr Spiel gegen die USA nährte zumindest die Hoffnung, dass die Südamerikaner wieder im Viertelfinale scheitern. Endlich zeigte der Geheimfavorit mal, wozu er fähig ist. Nur wollte dieses verflixte Tor nicht fallen, weil – auch das ist ein Trend dieser WM – in Person von Tim Howard wieder mal ein fantastischer Keeper im Weg stand. So benötigten die »roten Teufel« eine Verlängerung für ihre zwei Tore, doch auch hier begann das ganze Drama erst ganz spät: Mit dem Anpfiff der zweiten Halbzeit der Verlängerung brachte der grad eingewechselte Julian Green den Ball ins Netz der Belgier. Ein wahrer Sturmlauf begann. Die Amis warfen noch mal alles nach vorne und drängten Belgien an die Wand. Fast hätten die Amerikaner diesem phänomenalen Schlussspurt noch die Krone aufgesetzt, doch es sollte nicht sein. Klinsmann ist raus.

Es ist lange her, dass eine WM so dermaßen ausgeglichen war. Im Achtelfinale gab es im Prinzip nur ein, vielleicht auch zwei Spiele, die keine verrückteWendung parat hatten. Was will der Fußballfan mehr?
Nichts spricht dafür, dass es im Viertelfinale weniger Dramatik gibt … und das ist geil!

(K)eine Zeit für Optimisten

Sambamärchen. Eindrücke vom Thriller gegen Algerien.

So, jetzt haben wir alle mal tief durchgeatmet und 'ne Nacht drüber geschlafen (oder auch nicht). Wahrscheinlich dominiert bei so vielen ein verflixt komische Gefühl im Magen, irgendwo zwischen Erleichterung und Ernüchterung. Haarscharf sind wir gestern an eine der größten Blamagen der deutschen Turniergeschichte vorbeigeschrammt. Erst in der Verlängerung konnten wir die Algerier besiegen, und das nach dem definitiv schwächsten Auftritt unserer Elf in Brasilien.

All die Spielfreude – verpufft.
All die Euphorie – verschwunden.
Und all die Weltmeister-Träume im ganzen Schland – arg gedämpft.

Es ist wahrlich keine Zeit für Optimisten.

Na und?

Meiner Zuversicht konnte dieser alles andere als souverände Viertelfinaleinzug nichts anhaben. Ich bin fast noch ein bisschen optimistischer. Verrückt? Bisschen.

Ein früher Wachrüttler: Nach einem Konter der Algerier muss Manuel Neuer in der...
Weltklasse Harakiri: Manuel Neuer
Ja, die deutsche Mannschaft hat sich gestern in der ersten Halbzeit ganz großen Dreck zusammengespielt. Dass es nicht schon früh 1-0 für Algerien stand, haben wir unserem neuen Vorzeigelibero Manuel Neuer zu verdanken. Die Abwehr war unsicher, und vorne ging gegen starke Algerier mal so überhaupt nix.
ABER Deutschland hat sich ins Spiel hineingebissen. Die Unsicherheiten wurden weniger, wenn auch freilich nicht vollständig fehlerlos verteidigt wurde, und ab der zweiten Hälfte lief die Maschine doch. Wenn man der deutschen Mannschaften von da an noch einen ensthaften Vorwurf machen kann, dann ist es die mangelnde Chancenverwertung. Mehr nicht. Wichtig ist, dass man es dann immer weiter versucht, und das hat die Mannschaft getan. Das 1-0 in der 92. Minute war inzwischen verdient. Das ist ein Fakt. Genauso war es erlösend und immens wichtig. Und so gewinnt man dann auch solche unglaublich komplizierten Spiele, wo man einen klassischen Fehlstart hinlegt und erst über den Kampf ins Spiel findet.

Schön ist das Ganze nicht.. Kein 4-0 gegen Portugal und Argentinien, kein 4-1 gegen England. 
Es ist kein Sommermärchen-Fußball mehr. Und das ist gut!

Zuletzt ging es immer nur ums Schönspielen, um die Kunst, um die Ästethik. Ich habe das Gefühl, in der Mannschaft hat ein Umdenken stattgefunden. Löw spricht inzwischen davon, dass »das Ergebnis wichtiger ist, als wie es zustande gekommen ist« - richtig! Die Mannschaft will Weltmeister werden, wirklich, und sie weiß, dass das ganz selten einwandfrei läuft. Regelrecht beeindruckt hat mich Per Mertesacker nach dem Spiel im Interview. Angesprochen auf die spielerischen Schwächen sagt er u.a. »Was wollen sie von mir?Wollen Sie eine erfolgreiche WM oder sollen wir wieder ausscheiden und haben schön gespielt?«

So oder so. Die Deutschen haben was zu meckern. Aber fragt euch doch alle mal selbst: Was wollt ihr? Ich will, dass die Mannschaft den Titel holt. Egal wie, wirklich, es ist scheißegal. Und wenn auf diesen Weg eine Verlängerung gegen Algerien, zwei Eigentore der Franzosen, ein Elfmeterschießen gegen Brasilien und ein abgefälschtes Freistoßtor im Finale gegen die Holländer liegt, dann soll es so sein. Dann ist es vielleicht glücklich, aber verdient haben wir es uns dann halt bei den vergangenen Turnieren.

Dazu muss aber etwas passieren. Das Glück muss man sich auch beim Scheißespielen irgendwie erzwingen. Gegen Algerien hat eine gute Halbzeit und eine solide Verlängerung gereicht – gegen Frankreich wird es so nichts. Die Abwehr muss wieder sicher stehen, und vorne muss von Anfang an Dampf gemacht werden.

Löw hat Fehler gemacht, die er nicht wiederholen darf. Zum Beispiel: Shkodran Mustafi auf rechts zu stellen. Nicht falsch verstehen, ich halte ihn für ein großes Talent, dass uns in Zukunft noch helfen wird. Doch dieses Startelf-Debüt in einem WM-Achtelfinale, noch dazu auf eine ihm fremde Position gegen stark konternde Algerier, ging gründlich daneben. Er war aber zumindest nicht schwächer als der ganze Rest der deutschen Hintermannschaft. Zu allem Überfluss verletzte er sich dann noch am Oberschenkel – WM-Aus. Für ihn tut's mir wirklich Leid, aber im Hier und Jetzt ist es wohl tatsächlich besser so.

Für den Einwechselspieler war es das erste Tor bei dieser WM.
Andre Schürrle: Warum nicht in der Startelf?
In vorderster Front waren Mario Götze und Mesut Özil gegen robuste Nordafrikaner Fehlbesetzungen. … Grade am Ersteren lief das Spiel komplett vorbei. Ja, womöglich würde das gegen die Franzosen, die jetzt nicht unbedingt für's Hintenreinstellen bekannt sind, deutlich besser laufen. Aber warum probiert Löw es nicht mit Siegtor-Schütze Schürrle von Anfang an? Oder Lukas Podolski, der ja dann wieder fit ist … oder vielleicht sogar mit beiden?

Und dann gibt’s ja noch diese elende Diskussion um Philipp Lahm und die 6er-Position. Es wäre tatsächlich so viel einfacher, wenn man ihn auf seine klassische Position in der rechten Verteidigung postieren würde, und Khedira UND Schweinsteiger neben Kroos als DM auflaufen lässt. Exakt so, wie es gegen Algerien nach der Mustafi-Verletzung auch geschah. Klingt ja auch ganz in Ordnung, nur: Sind beide fit genug?
Löw MUSS jetzt beweisen, dass er es drauf hat. MUSS auch mal über seinen Schatten springen, und eingestehen, dass das doof war.

Dann hat die Mannschaft wirklich alle Chancen. Sie hat die Hölle von Porto Alegre überlebt, jetzt kann uns nichts mehr schocken. Also: Beruhigt euch alle mal. Ich glaub weiterhin an unsere Jungs und den Weltmeistertitel, so lange bis der letzte deutsche Pass in Brasilien gespielt wird.

Und damit bin ich einer der wenigen, die nach dem Achtelfinale noch Hoffnungen haben.
Es ist wirklich keine Zeit für Optmisten.