WM-Tagebuch #12 – Gänsehautentzündungen

Sambamärchen. In den Achtelfinals setzen sich alle Gruppensieger durch – doch bei kaum einem läuft es wirklich rund.

Was waren denn das bitte für megaspannende Spiele?! Bereits im Achtelfinale bekommt die Fußballwelt die dramatischsten Seiten zu sehen, die solche KO-Spielen mit sich bringen können: Späte Tore, Geistesblitze, fünf mal Verlängerung und davon ging's zwei mal ins Elfmeterschießen. Boah!

Pinilla an die Latte ... Brasilien kurz vorm K.O.
Die Runde der letzten 16 begann ja schon mit einem Paukenschlag: Brasiliens Auftritt gegen Chile wurde ein intensives, emotionales und am Ende hochexplosives Duell. Der Gastgeber schrammte haarscharf an der nationalen Katastrophe vorbei, weil die Chilenen ebenbürtig waren. Mindestens. Doch der Gott im Himmel schien echt alles daran zu setzen, Brasilien nicht schon so früh aus ihrem Turnier zu werfen. Anders kann man es nicht erklären, dass der letzte Schuss von Mauricio Pinilla in der 120. Minute nur den Weg an die Latte fand – und nicht ins Tor. Oder als der letzte chilenische Schütze im Elfmeterschießen, Jara, seinen Schuss punktgenau an den Innenpfosten setzte, der dem Ball genau den Drall gab, sich um den Pfosten auf der anderen Seite zu drehen.
Chile ist raus. Und damit geht der wohl stärkste aller Geheimfavoriten. Die Gastgeber hingegen wissen wohl selber nicht, woher sie ihr ganzes Glück eigentlich nehmen …
Da muss ich doch glatt mal Mehmet Scholl zitieren: Gänsehautentzündung!

Nächster Gegner wird Kolumbien sein, das bisher wirklich das einzige Team dieser Weltmeisterschaft ist, das in absolut jedem Spiel überzeugen konnte. Und sie haben die Neuentdeckung der WM in ihren Reihen: James Rodriguez. Spätestens mit seinem überragenden 1-0 Treffer gegen Uruguay schoss er sich ins Gedächtnis der Fans, und weil es so schön war, schnürte er gleich einen Doppelpack. Die Urus, auch wenn ohne Luis Suarez, muss man erstmal derart souverän vom Platz fegen. Mit den Kolumbianern gibt es also tatsächlich noch einen Geheimfavoriten, der diesen Titel komplett zurecht verliehen bekommen hat …

Die unschöne Interpretation des fliegenden Holländers ...
Alles andere als ein Geheimfavorit sind die Holländer, die sich gegen Mexiko aber schwerer taten als erwartet. In einer wahren Hitzeschlacht in Fortaleza gingen die Lateinamerikaner kurz nach der Halbzeit in Führung, und plötzlich schienen sich all die Klischees zu bestätigen: Holland spielt 'ne überragende Vorrunde und fliegt dann früh raus. Es hätte ja auch so schön zu dieser WM gepasst, wenn schon wieder ein großes europäisches Team viel zu früh rausgeflogen wäre. Hätte hätte Fahrradkette, die Welt könnte heute viel anders aussehen, wenn die Mexikaner nach der Führung weiter Fußball gespielt hätten. Taten sie aber nicht. Stattdessen kam die Oranje zurück, überwand nach 87 Minuten den erneut fantastischen Keeper Ochoa, um das Spiel dann komplett zu drehen. Den Elfmeter in letzter Minute – Robben war mächtig abgehoben, noch so ein Klischee … - verwandelte der von Van Gaal so oft verschmähte Klaas-Jan-Huntelaar. 2-1. Schluss, Aus, Ende. Die Mexikaner scheiterten zum sechsten (!) Mal in Folge an der Hürde Achtelfinale. Da hilft auch kein Lamentieren vom supersympathischen mexikanischen Trainer Miguel Herrera – der Strafstoß war berechtigt.

Costa Rica sorgte dann am Abend für die nächste Sensation, wobei der Viertelfinaleinzug ihres Gegners Griechenland mit dem gleichen Substantiv belegt werden hätte können. Krass ist aber in der Tat, wie dieser Sieg zustande kam. Der Führung von Bryan Ruiz folgte bald eine gelb-rote Karte. Unterzahl. Fast 'ne halbe Stunde! Die Ticos kämpften mit viel Herz, doch es half nichts: Sokratis erzielte in der letzten Minute den Ausgleich. Verlängerung. Viele Team wären jetzt zusammengefallen, vor allem mit nur zehn Mann – nicht so die Costaricaner. Mit viel Glück und einen überragenden Torwart namens Keylor Navas retteten sie sich ins Elfmeterschießen, wo die eigentlich völlig kaputten Spieler ihre Strafstöße allesamt verwandelten. Weil dort der besagte Navas auch noch einen griechischen Schuss grandios parieren konnte, ist Costa Rica jetzt tatsächlich unter den besten Acht.
Nächster Gegner: Holland. Wenn uns diese WM eins gezeigt hat, dann dass definitiv nichts unmöglich ist ...

Im Spiel Frankreich gegen Nigeria wurde unser möglicher Viertelfinalgegner gesucht und, klar, war Les Bleus der Favorit. Doch das scheint in diesen Tagen eher zu hemmen, als das es beflügeln kann. Zumindest war das Spiel der Franzosen weitesgehend ideenlos, während Nigeria sehr stark agierte. Erst in der Schlussphase entschied sich dieses ausgeglichene Spiel, weil Paul Pogba endlich zeigte, warum er als das größte Talent unseres Nachbarlandes gilt. Angst muss man vor dieser Mannschaft allerdings nicht haben – Ähnliches wird man zwischen der Bretagne und der Cote d'Azure aber auch über uns Deutsche sagen, siehe Algerien …

WM 2014 Achtelfinale Argentinien - Schweiz Tor
Im Netz: Di Marias 1:0 lässt Schweiz verzweifeln
Der letzte Tag der Achtelfinals wurde gleichzeitig zum Tag der Verlängerungen. Zunächst schleppten sich die Argentinier gegen den Außenseiter Schweiz durch 90 zähe Minuten, in denen die Eidgenossen sogar die besseren Chancen hatten. Generell machten unsere Nachbarn ein großartiges Spiel, perfekt eingestellt von Ottmar Hitzfeld fehlte lediglich das Tor zur ganz, ganz großen Überraschung. Es sollte nicht fallen. Es ist so bitter, dass den Argentiniern dann genau ein Fehler reichte, um das Spiel an sich zureißen. In der 118. Minute verlor Juves Lichtsteiner, bis dahin nahezu großartig, einen Ball im Mittelfeld, den Lionel Messi dann nach starkem Sprint zu Angel di Maria durchbrachte, der wiederum nur einschieben musste. Doch das war es noch nicht: Quasi im Gegenzug kamen die Schweizer in Form von Dzemaili aus drei Metern zu einem Kopfball, der jedoch nur an den Pfosten prallte, und vom Knie des völlig überraschten Schützen knapp vorbeirollte. Wie schon Brasilien hilft den Argentiniern das Aluminium, seit neuestem auch bekannt der »Pfosten Gottes«. Ottmar Hitzfelds Karriere geht damit spektakulär zu Ende. Schade für diese sympathischen Schweizer, die Überraschung lag in der Luft!

Schafft es die behäbige Albiceleste, sich trotzdem ins Halbfinale zu mogeln? Belgien wird etwas dagegen haben, und ihr Spiel gegen die USA nährte zumindest die Hoffnung, dass die Südamerikaner wieder im Viertelfinale scheitern. Endlich zeigte der Geheimfavorit mal, wozu er fähig ist. Nur wollte dieses verflixte Tor nicht fallen, weil – auch das ist ein Trend dieser WM – in Person von Tim Howard wieder mal ein fantastischer Keeper im Weg stand. So benötigten die »roten Teufel« eine Verlängerung für ihre zwei Tore, doch auch hier begann das ganze Drama erst ganz spät: Mit dem Anpfiff der zweiten Halbzeit der Verlängerung brachte der grad eingewechselte Julian Green den Ball ins Netz der Belgier. Ein wahrer Sturmlauf begann. Die Amis warfen noch mal alles nach vorne und drängten Belgien an die Wand. Fast hätten die Amerikaner diesem phänomenalen Schlussspurt noch die Krone aufgesetzt, doch es sollte nicht sein. Klinsmann ist raus.

Es ist lange her, dass eine WM so dermaßen ausgeglichen war. Im Achtelfinale gab es im Prinzip nur ein, vielleicht auch zwei Spiele, die keine verrückteWendung parat hatten. Was will der Fußballfan mehr?
Nichts spricht dafür, dass es im Viertelfinale weniger Dramatik gibt … und das ist geil!