(K)eine Zeit für Optimisten

Sambamärchen. Eindrücke vom Thriller gegen Algerien.

So, jetzt haben wir alle mal tief durchgeatmet und 'ne Nacht drüber geschlafen (oder auch nicht). Wahrscheinlich dominiert bei so vielen ein verflixt komische Gefühl im Magen, irgendwo zwischen Erleichterung und Ernüchterung. Haarscharf sind wir gestern an eine der größten Blamagen der deutschen Turniergeschichte vorbeigeschrammt. Erst in der Verlängerung konnten wir die Algerier besiegen, und das nach dem definitiv schwächsten Auftritt unserer Elf in Brasilien.

All die Spielfreude – verpufft.
All die Euphorie – verschwunden.
Und all die Weltmeister-Träume im ganzen Schland – arg gedämpft.

Es ist wahrlich keine Zeit für Optimisten.

Na und?

Meiner Zuversicht konnte dieser alles andere als souverände Viertelfinaleinzug nichts anhaben. Ich bin fast noch ein bisschen optimistischer. Verrückt? Bisschen.

Ein früher Wachrüttler: Nach einem Konter der Algerier muss Manuel Neuer in der...
Weltklasse Harakiri: Manuel Neuer
Ja, die deutsche Mannschaft hat sich gestern in der ersten Halbzeit ganz großen Dreck zusammengespielt. Dass es nicht schon früh 1-0 für Algerien stand, haben wir unserem neuen Vorzeigelibero Manuel Neuer zu verdanken. Die Abwehr war unsicher, und vorne ging gegen starke Algerier mal so überhaupt nix.
ABER Deutschland hat sich ins Spiel hineingebissen. Die Unsicherheiten wurden weniger, wenn auch freilich nicht vollständig fehlerlos verteidigt wurde, und ab der zweiten Hälfte lief die Maschine doch. Wenn man der deutschen Mannschaften von da an noch einen ensthaften Vorwurf machen kann, dann ist es die mangelnde Chancenverwertung. Mehr nicht. Wichtig ist, dass man es dann immer weiter versucht, und das hat die Mannschaft getan. Das 1-0 in der 92. Minute war inzwischen verdient. Das ist ein Fakt. Genauso war es erlösend und immens wichtig. Und so gewinnt man dann auch solche unglaublich komplizierten Spiele, wo man einen klassischen Fehlstart hinlegt und erst über den Kampf ins Spiel findet.

Schön ist das Ganze nicht.. Kein 4-0 gegen Portugal und Argentinien, kein 4-1 gegen England. 
Es ist kein Sommermärchen-Fußball mehr. Und das ist gut!

Zuletzt ging es immer nur ums Schönspielen, um die Kunst, um die Ästethik. Ich habe das Gefühl, in der Mannschaft hat ein Umdenken stattgefunden. Löw spricht inzwischen davon, dass »das Ergebnis wichtiger ist, als wie es zustande gekommen ist« - richtig! Die Mannschaft will Weltmeister werden, wirklich, und sie weiß, dass das ganz selten einwandfrei läuft. Regelrecht beeindruckt hat mich Per Mertesacker nach dem Spiel im Interview. Angesprochen auf die spielerischen Schwächen sagt er u.a. »Was wollen sie von mir?Wollen Sie eine erfolgreiche WM oder sollen wir wieder ausscheiden und haben schön gespielt?«

So oder so. Die Deutschen haben was zu meckern. Aber fragt euch doch alle mal selbst: Was wollt ihr? Ich will, dass die Mannschaft den Titel holt. Egal wie, wirklich, es ist scheißegal. Und wenn auf diesen Weg eine Verlängerung gegen Algerien, zwei Eigentore der Franzosen, ein Elfmeterschießen gegen Brasilien und ein abgefälschtes Freistoßtor im Finale gegen die Holländer liegt, dann soll es so sein. Dann ist es vielleicht glücklich, aber verdient haben wir es uns dann halt bei den vergangenen Turnieren.

Dazu muss aber etwas passieren. Das Glück muss man sich auch beim Scheißespielen irgendwie erzwingen. Gegen Algerien hat eine gute Halbzeit und eine solide Verlängerung gereicht – gegen Frankreich wird es so nichts. Die Abwehr muss wieder sicher stehen, und vorne muss von Anfang an Dampf gemacht werden.

Löw hat Fehler gemacht, die er nicht wiederholen darf. Zum Beispiel: Shkodran Mustafi auf rechts zu stellen. Nicht falsch verstehen, ich halte ihn für ein großes Talent, dass uns in Zukunft noch helfen wird. Doch dieses Startelf-Debüt in einem WM-Achtelfinale, noch dazu auf eine ihm fremde Position gegen stark konternde Algerier, ging gründlich daneben. Er war aber zumindest nicht schwächer als der ganze Rest der deutschen Hintermannschaft. Zu allem Überfluss verletzte er sich dann noch am Oberschenkel – WM-Aus. Für ihn tut's mir wirklich Leid, aber im Hier und Jetzt ist es wohl tatsächlich besser so.

Für den Einwechselspieler war es das erste Tor bei dieser WM.
Andre Schürrle: Warum nicht in der Startelf?
In vorderster Front waren Mario Götze und Mesut Özil gegen robuste Nordafrikaner Fehlbesetzungen. … Grade am Ersteren lief das Spiel komplett vorbei. Ja, womöglich würde das gegen die Franzosen, die jetzt nicht unbedingt für's Hintenreinstellen bekannt sind, deutlich besser laufen. Aber warum probiert Löw es nicht mit Siegtor-Schütze Schürrle von Anfang an? Oder Lukas Podolski, der ja dann wieder fit ist … oder vielleicht sogar mit beiden?

Und dann gibt’s ja noch diese elende Diskussion um Philipp Lahm und die 6er-Position. Es wäre tatsächlich so viel einfacher, wenn man ihn auf seine klassische Position in der rechten Verteidigung postieren würde, und Khedira UND Schweinsteiger neben Kroos als DM auflaufen lässt. Exakt so, wie es gegen Algerien nach der Mustafi-Verletzung auch geschah. Klingt ja auch ganz in Ordnung, nur: Sind beide fit genug?
Löw MUSS jetzt beweisen, dass er es drauf hat. MUSS auch mal über seinen Schatten springen, und eingestehen, dass das doof war.

Dann hat die Mannschaft wirklich alle Chancen. Sie hat die Hölle von Porto Alegre überlebt, jetzt kann uns nichts mehr schocken. Also: Beruhigt euch alle mal. Ich glaub weiterhin an unsere Jungs und den Weltmeistertitel, so lange bis der letzte deutsche Pass in Brasilien gespielt wird.

Und damit bin ich einer der wenigen, die nach dem Achtelfinale noch Hoffnungen haben.
Es ist wirklich keine Zeit für Optmisten.