Sambamärchen. Ein
Rückblick auf die vielleicht surrealsten 90 Minuten der
Fußballhistorie.
Jegliche Versuche, dieses
gestrige Spiel in angemessenen Worten zu verpacken, führen ins
Nichts. Dutzende Male habe ich mich während des Spiels gekniffen.
Dutzende Male habe ich den Kopf geschüttelt. Und als ich vorhin
aufgewacht bin, dachte ich, es wäre alles nur ein wunderschöner
Traum gewesen. War's nicht. Das Ergebnis des gestrigen Halbfinals ist
Realität.
Sieben zu eins.
Die Fußballwelt erlebte
gestern Abend eines ihrer größten Erdbeben, wenn nicht sogar das
größte der Geschichte. Die Dimensionen dieses Knalls sind
historisch, allein schon wenn man von den Reaktionen liest. In
Brasilien wird dieses Halbfinale auf einer Stufe mit dem Maracanazo
1950 gestellt, dem bisher dunkelsten Kapitel der brasilianischen
Fußballgeschichte. Und hier in Deutschland sprechen manche vom
größten Spiel seit dem »Wunder von Bern«. Normalerweise eine
gnadenlos Übertreibung, doch widersprechen mag man dem Ganzen nicht.
Wenn am Sonntag jetzt der Titel eingefahren wird, dann ist es das
definitiv.
Wo warst du in diesen 18
Minuten, als Deutschland 5 Tore gegen den Gastgeber schoss?, wird
man sich noch in Jahren, Jahrzehnten fragen. Ich war bei Bekannten,
wo wir bei jedem deutschen Tor einen kleinen Schnaps trinken wollten
– und dann irgendwann nicht mehr hinterherkamen. Als wäre es ein
Suffspiel. Wahnsinn.
Es gab so viele
unfassbare Momente gestern Abend in Belo Horzonte, doch die besten
Bilder gab es am Ende: Beim siebten Tor durch Schürrle standen alle
im Stadion, auch die Brasilianer. Sie haben allen Grund, von ihrer
eigenen Mannschaft enttäuscht zu sein, doch sie vergaßen nicht, dem
besseren Team Respekt zu zollen. Genauso lief es umgekehrt: Nach
Schlusspfiff setzte kein deutscher Spieler zu überschwänglichen
Jubelläufen an und spendete den gegnerischen Akteuren Trost,
wohlwissend dass man hier eine ganze Nation in tiefe Trauer gestürzt
hat. Nicht jede Nationalmannschaft hat so viel Größe, im Moment des
Erfolgs dem Besiegten derart viel Mitgefühl entgegenzubringen.
Wisst ihr, wir haben
schon so viele gigantische Spiele gesehen, die allesamt ein bisschen
surreal waren. Ich meine, 4-1 gegen England, 4-0 gegen Argentinien,
dann die Auftritte der Bayern und Dortmunder in der
Champions-League-Saison 2013 … doch dieser 8. Juli 2014 war noch
viel größer.
Es wird immer der Tag
bleiben, an dem die Nationalmannschaft Brasiliens nach einem frühen
0-2 gegen die Deutschen komplett auseinanderbrach. Vor eigenem
Publikum, in einem WM-Halbfinale. Es wird immer der Tag bleiben, an
dem Miroslav Klose seinen WM-Torrekord aufstellte. Ein Tag, an dem
Legenden geboren wurden. Die Sternstunde des Toni Kroos' oder das
erschlagende Selbstbewusstsein eines Sami Khedira. Eigentlich hat
hier fast jeder 'ne spezielle Ehrung verdient. Doch damit warte ich
lieber noch ab.
Denn man darf nicht
vergessen, dass es lediglich der Tag ist, an dem Deutschland das
WM-Halbfinale 2014 gewonnen hat. Historisch ist es erst, wenn wir am
Sonntag noch den letzten Schritt machen und – wer hätte gedacht,
dass wir das wirklich sagen können – Weltmeister werden.
Weltmeister! Dann, liebe Leute, erst dann war dieser gestrige
Glanzabend auch Gold wert.