Mineirazo 2014

Sambamärchen. Ein Rückblick auf die vielleicht surrealsten 90 Minuten der Fußballhistorie.

Jegliche Versuche, dieses gestrige Spiel in angemessenen Worten zu verpacken, führen ins Nichts. Dutzende Male habe ich mich während des Spiels gekniffen. Dutzende Male habe ich den Kopf geschüttelt. Und als ich vorhin aufgewacht bin, dachte ich, es wäre alles nur ein wunderschöner Traum gewesen. War's nicht. Das Ergebnis des gestrigen Halbfinals ist Realität.

Sieben zu eins.

Die DFB-Elf führt zur Halbzeit 5:0 gegen den Gastgeber Brasilien. So eine Gala...
Die Fußballwelt erlebte gestern Abend eines ihrer größten Erdbeben, wenn nicht sogar das größte der Geschichte. Die Dimensionen dieses Knalls sind historisch, allein schon wenn man von den Reaktionen liest. In Brasilien wird dieses Halbfinale auf einer Stufe mit dem Maracanazo 1950 gestellt, dem bisher dunkelsten Kapitel der brasilianischen Fußballgeschichte. Und hier in Deutschland sprechen manche vom größten Spiel seit dem »Wunder von Bern«. Normalerweise eine gnadenlos Übertreibung, doch widersprechen mag man dem Ganzen nicht. Wenn am Sonntag jetzt der Titel eingefahren wird, dann ist es das definitiv.

Wo warst du in diesen 18 Minuten, als Deutschland 5 Tore gegen den Gastgeber schoss?, wird man sich noch in Jahren, Jahrzehnten fragen. Ich war bei Bekannten, wo wir bei jedem deutschen Tor einen kleinen Schnaps trinken wollten – und dann irgendwann nicht mehr hinterherkamen. Als wäre es ein Suffspiel. Wahnsinn.

Es gab so viele unfassbare Momente gestern Abend in Belo Horzonte, doch die besten Bilder gab es am Ende: Beim siebten Tor durch Schürrle standen alle im Stadion, auch die Brasilianer. Sie haben allen Grund, von ihrer eigenen Mannschaft enttäuscht zu sein, doch sie vergaßen nicht, dem besseren Team Respekt zu zollen. Genauso lief es umgekehrt: Nach Schlusspfiff setzte kein deutscher Spieler zu überschwänglichen Jubelläufen an und spendete den gegnerischen Akteuren Trost, wohlwissend dass man hier eine ganze Nation in tiefe Trauer gestürzt hat. Nicht jede Nationalmannschaft hat so viel Größe, im Moment des Erfolgs dem Besiegten derart viel Mitgefühl entgegenzubringen.

Wisst ihr, wir haben schon so viele gigantische Spiele gesehen, die allesamt ein bisschen surreal waren. Ich meine, 4-1 gegen England, 4-0 gegen Argentinien, dann die Auftritte der Bayern und Dortmunder in der Champions-League-Saison 2013 … doch dieser 8. Juli 2014 war noch viel größer.
Es wird immer der Tag bleiben, an dem die Nationalmannschaft Brasiliens nach einem frühen 0-2 gegen die Deutschen komplett auseinanderbrach. Vor eigenem Publikum, in einem WM-Halbfinale. Es wird immer der Tag bleiben, an dem Miroslav Klose seinen WM-Torrekord aufstellte. Ein Tag, an dem Legenden geboren wurden. Die Sternstunde des Toni Kroos' oder das erschlagende Selbstbewusstsein eines Sami Khedira. Eigentlich hat hier fast jeder 'ne spezielle Ehrung verdient. Doch damit warte ich lieber noch ab.

Denn man darf nicht vergessen, dass es lediglich der Tag ist, an dem Deutschland das WM-Halbfinale 2014 gewonnen hat. Historisch ist es erst, wenn wir am Sonntag noch den letzten Schritt machen und – wer hätte gedacht, dass wir das wirklich sagen können – Weltmeister werden. Weltmeister! Dann, liebe Leute, erst dann war dieser gestrige Glanzabend auch Gold wert.