WM-Tagebuch #6 – Die Partycrasher

Sambamärchen. Der Gastgeber patzt im zweiten Spiel, und wird seinen Favoritenstatus langsam los.

0-0 .. das klingt so langweilig, so unspektakulär, so zäh und alles andere als unterhaltsam. Doch manchmal steckt in so einem torlosen Unentschieden eine Menge Pfeffer. Der zweite Auftritt des Gastgebers Brasilien gegen Mexiko gehört zu den besseren, mit Sicherheit ist es das beste 0-0 dieser WM.

Schuld daran ist, wie soll es bei diesen Ergebnis anders sein, ein Torhüter: Guillermo Ochoa vom französichen Absteiger AJ Ajaccio. Er machte das Spiel seines Lebens, zeigte Glanzparaden en masse oder stand stets goldrichtig. Die Selecao verzweifelte, ganz Brasilien litt mit und spätestens als der mexikanische Schlussmann kurz vorm Ende einen wuchtigen Thiago-Silva-Kopfball aus vier Metern von der Linie holte, war er das Schreckgespenst, der Partycrasher. Er schaute sich um, nickte zufrieden und hielt auch in der restlichen Spielzeit das Remis fest. Beinahe hätten seine Teamkollegen noch für den sensationellen Sieg gesorgt, doch auch Brasilien hat mit Julio Cesar einen richtig guten Torwart. Angstgegner Mexiko – nicht zuletzt auch wegen der Niederlage im olympischen Finale 2012 – hat also wieder mal zugeschlagen.
Nun bedeutet dieses Unentschieden noch kein Erdbeben, ist auch nicht besonders dramatisch, aber es hat die Gastgeber-Nation ein wenig nachdenklicher gemacht. Der Status des absoluten Top-Favoriten, der ist spätestens seit dem gestrigen Abend von Fortaleza erstmal futsch.

Am Ende jubelten die Mexikaner über das 0:0, die Stars der "Seleção" waren...Vieles an Brasilien kann man ein wenig mit Portugal und Christiano Ronaldo vergleichen. Es gibt mit Neymar einen absoluten Weltstar, um den sich viele richtig gute Spieler versammeln. Doch reicht das für den Weltmeister-Titel? Die brasilianischen Weltmeister-Mannschaften waren früher einfach ganz anders besetzt – z.B. 2002: Ronaldo, Ronaldinho, Roberto Carlos, Lucio, Cafu, Rivaldo … alles fantastische Spieler. Qualitativ reicht das aktuelle Team nicht an diese früheren Tage heran. Doch das muss ja nix heißen, das wissen wir Deutschen schließlich selbst am besten: 2006 trug uns die Euphorie der Heim-WM bis ins Halbfinale, obwohl wir nicht die ganz großen Namen hatten (Ich mein, seriously, vergleicht die Elf von damals mal mit der von heute). Wir hatten alle zusammen ein Erlebnis, das den Brasilianern gestern nicht vergönnt war. Erinnert ihr euch noch? Wir taten uns damals im zweiten Gruppenspiel gegen Polen ähnlich schwer, und gewannen erst in der letzten Minute. Das hat ungeahnte Kräfte freigesetzt. Die Party fing erst dort so richtig an – in Brasilien kommt sie immer noch nicht so recht in Gang.
Aber genug gemeckert, vielleicht hat dieses 0-0 auch seine Ursache im starken Auftreten der Gegner, und in der Tat bin ich begeistert von den Mexikanern. Schon gegen Kamerun waren sie die klar bessere Mannschaft, gestern mindestens ebenbürtig. Die Abwehr um Kapitän Rafael Marquez hatte fast alles im Griff, und wenn nicht, dann rettete sie ja dieser verrückte Keeper mit der witzigen Frisur. Wären sie vorne doch nur ein klein wenig konsequenter gewesen … Die Sensation war möglich, doch auch so sind sie schon die Partycrasher von Fortaleza.
In der Form schaffen sie es ins Achtelfinale … und drüber hinaus? Nun, auch wenn da möglicherweise Holland und Spanien lauern, ist diesen Mexikanern alles zuzutrauen. Sie haben viele talentierte Spieler (Olympiasieger 2012 wird man nicht ohne Grund), einen genialen Trainer und – normalerweise finde ich das nicht so wichtig – einen Klimavorteil. Trainer Herrerra setzt vorrangig auf einheimische Spieler und lässt die europäischen Legionäre oftmals draußen. Der Lohn: Topfitte Leute, die nach so einem intensiven Spiel wie gestern irgendwie weniger erschöpft aussahen, als viele andere, vor allem eben europäische Mannschaften. Fazit: Mexiko zu unterschätzen, wäre ein ganz ganz große Fehler.

Und sonst? Gestern hatte Mehr-als-Geheimfavorit Belgien seinen ersten Auftritt und schien unter den Erwartungen zusammenzubrechen. Gegen den kompakt stehenden Außenseiter Algerien lief zunächst gar nix zusammen, so dass das 0-1 fast folgerichtig war. Doch Trainer Marc Wilmots bewies ein goldenes Händchen und brachte mit Fellaini und Mertens die beiden späteren Siegtorschützen. Das war ein zäher, nervöser Auftakt, doch ich bleib dabei: Belgien kann ordentlich was reißen.
Den Abschluss des Tages stellte der Kick zwischen Südkorea und Russland dar. 1-1 hieß es am Ende, vor allem verursacht durch zwei unterirdische Torwart-Leistungen. Russlands Igor Akinfeev, sonst ein richtig guter Mann zwischen den Pfosten, ließ in der zweiten Hälfte den Ball mehrmals in die Mitte abklatschen. Der Höhepunkt mit Ansage: Ein relativ harmloser Schuss von Lee sprang ihm durch die Hände, weil er sich nicht zwischen fausten und fangen entscheiden konnte. Seine Teamkollegen schafften zwar noch den Ausgleich, doch mehr war nicht drin. Einen Sieger hatte dieses Spiel aber auch nicht verdient.

Heute: Holland ist mit einem Sieg ziemlich sicher im Achtelfinale und Spanien kann schon die Heimreise planen, wenn sie gegen Chile nicht gewinnen. Gemeinsam übrigens mit dem Verlierer von Kamerun gegen Kroatien. Das könnte brisant werden ...